Forumsartikel in der Andelfinger Zeitung, Ausgabe vom 3. Mai 2024
Woran fehlt es in unserer Gesellschaft? Da hat wohl jeder so seine eigenen Vorstellungen. Was dient unserer Gesellschaft? Auch da dürfte die Antwort nicht so einfach sein. Aber gegenseitiges Verständnis gehört ganz sicher dazu.
Gegenseitiges Verständnis, das sei bloss ein anderes Wort für Kapitulation, könnte man denken. Sicher gibt es Grenzen, nicht alles ist akzeptabel. Aber ohne gegenseitiges Verständnis stelle ich mir das Leben einsam vor.
Beruflich bin ich gelegentlich an Konferenzen mit Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Landesteilen. Da gilt die Regel, dass jeder in seiner eigenen Landessprache sprechen kann. Aber wie steht es mit dem Verstehen? Oft ist ein professioneller Dolmetscher mit von der Partie. Ich weigere mich jedoch standhaft, mir diese Ohrstöpsel umzuhängen: Zumindest mit Französisch komme ich ganz leidlich zurecht und auch mit schön gesprochenem Italienisch kann ich umgehen. Selbst wenn es für mich nicht immer ganz leicht ist, finde ich den Verzicht auf den Dolmetscher ein wichtiges Zeichen für meine Freunde aus dem Tessin oder der Romandie: Ich versuche, dich zu verstehen.
Die Schweiz ist eine Willensnation: Wir sind Schweizer, nicht weil wir alle gleich sind, sondern wir sind Schweizer, weil wir uns aus unserer unterschiedlichen Herkunft und unserer unterschiedlichen Kultur Vorteile und neue Impulse erhoffen. Nur zu gut bekannt sind Regimes, in denen die Einheit im Zentrum steht und der Andersdenkende ausgegrenzt und verfolgt wird. Nur im Osten? Nein, auch in den USA, der sogenannt westlichen Leitkultur toben politische Grabenkämpfe. Ich mag gar nicht daran denken, was uns im amerikanischen Wahlkampf noch alles bevorsteht.
Was könnte das gemeinsame Verständnis fördern? Früher hat man Adlige mit Adligen anderer Herrscherhäuser zwangsverheiratet, um den Frieden zu sichern. Würde das heute auch gelingen? Ein Verwandter von Putin und eine Tochter aus dem Hause Selenski. Wäre damit ein rascher Frieden hergestellt? Wohl kaum.
Wie könnte man das gegenseitige Verständnis denn sonst fördern? Zum Beispiel, indem man Menschen, die im Ausland geboren sind, echte Chancen gibt und sie, wie jüngst in Basel geschehen, als Regierungsräte wählt. Und wo kann ich selbst etwas fürs gegenseitige Verständnis tun? Ich hab’s: Weg mit den Ohrstöpseln! Versuchen wir doch, unsere Umgebung im Originalton zu hören und wagen wir, auch mal in einer für uns ungewohnten Landessprache zu antworten. Auch wenn man nicht immer alles bis ins letzte Detail versteht, ist es doch ein wichtiges Zeichen an unsere Mitmenschen: Hey, mein Freund, auch wenn ich mich anstrengen muss versuche ich, dich zu verstehen…
Andreas Jenni, SP Weinland